Das Merkmal aktueller erfolgreicher Elektropop-Künstlerinnen wie Billie Eilish, Zoe Wees oder Tatum McRea ist die Reduktion der Musik, die ohne weitere am Computer in deren Kinderzimmer entstanden sein könnte. Hinzu kommt eine gewisse Introvertiertheit der Texte. Das ist meistens sehr gut gemacht und es is kein Wunder, das sich die Generation der Post-Millennials angesprochen fühlt. Sobald es bei einer musikalischen Richtung zu einem Überangebot kommt, sehnt man sich jedoch Alternativen. Eine solche bietet die polnischen Electropop-Künstlerin Martyna Kubicz, die sich als Musikerin MIN t nennt, mit ihrem neuen Album „Shot To Pieces„. Ein Unterschied ist schon mal, dass Min’t zwar erst 27 Jahren alt ist, damit aber doch mehr Lebenserfahrung hat, als die trendigen Pop-Divas im Teenageralter. Das spiegelt sich in der Musik wieder, die zudem auf Zurückhaltung verzichtet und die Qualität einer geschulten Stimme ausspielt. Musikalisch sozialisiert wurde Martyna in ihrer musikbegeisterten Familie in Breslau. Die Mutter hört Prog-Rock von Genesis und Pink Floyd sowie polnische Jazz- und Psychedelic-Bands aus den Siebzigern, der Großvater bringt MIN t mit Klassik und Opern in Berührung. Sie erfuhr ab dem sechsten Lebensjahr eine klassische Klavier- und Gesangsausbildung. MIN t schulte sich darin, nach Gehör frei Harmonien zu improvisieren. Spielte in Coverbands Neo-Soul-Klassiker von Jamiroquai und Moloko, um letztlich festzustellen, dass Bands nicht ihr Ding sind. So entstand die Idee zur Solo-Künstlerin MIN t. Der Name steht für Minimal Techno. Der Umzug in die Techno-Hauptstadt Berlin im Jahre 2016 ist eine Konsequenz dieser Entwicklung. Dort studierte MIN t gleichzeitig Komposition und Produktion, produzierte und veröffentlichte ihre erste EP „Turn The Lights Down“, spielte jede Menge Konzerte und Festivals wie Reeperbahnfestival, Helene Beach und Orange Warsaw und produzierte außerdem ihr 2017 erschienenes Album-Debüt, „Assemblage“. Sie macht mittlerweile fast alles selbst, sie produziert, arrangiert, komponiert und organisiert.
Was allerdings sehr gut harmoniert, ist die Zusammenarbeit mit ihrer älteren Schwester Patrycja. Aufgrund ihrer lyrischen Fähigkeiten schreibt Patrycja nahezu alle MIN t-Texte. Da die Schwestern so eng miteinander sind, bleibt bei Themen und Texten die sehr persönliche Sicht erhalten. So war es auch jetzt wieder bei der Produktion von „Shot To Pieces“. Inhaltlicher Ausgangspunkt für das Album sind MIN ts frühe Jahre, ihr bisweilen steiniger Weg in Berlin und in eine Karriere als selbstbestimmte Musikerin. Es geht um gescheiterte Beziehungen, die Spaltung von Gesellschaften, das Festhalten an den eigenen Träumen, aber auch um das Eintauchen in die Großstadt, oder um das Entdecken und Ausforschen der eigenen Sexualität. Die emotionale Tonart wurde noch einmal deutlich durch den Lockdown im letzten Winter verschärft. Die Zeit der erzwungenen Isolierung führte bei Martyna zu depressiven Phasen bis hin zu Panikattacken. Gleichzeitig wurde die Möglichkeit eröffnet , weiter an den Songs zu feilen und das Auf und Ab der Gefühlswelt einfließen zulassen.
So ist „Shot To Pieces“ ein musikalisch vielschichtiges, auch dunkles Album geworden, mit schweren Piano-Akkorden, düster-apokalyptisch drohenden Beats und Keyboardschwaden, Loops und Samples. Über alldem thront die Jazz – und Neo-Soul geschulte, warme und zupackende Stimme von MIN t. Die Frau will trotz aller Probleme und gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten keinen inneren Rückzug, sondern diesen mit ihren Mitteln Ausdruck verleihen und Veränderungen fordern. Dies wird ganz besonders in dem einzigen polnisch gesungenen Song, „Głos“ deutlich . Hier schwingt MIN t sich zu einem Fanal für die polnischen Frauen und gegen die misogyne und reaktionäre Abtreibungspolitik der polnischen Regierung auf.