Auf die Ohren – Zwischen den Jahren
Mit dem 1. Advent beginnt die Weihnachtszeit. Es ist eine Zeit im Jahr, die man nutzen sollte, alles etwas langsamer anzugehen, um zur Besinnung zu zukommen. Sich bloß nicht in den Konsumwahn hinein zwingen lassen, der alljährlich zum Weihnachtsfest hin ausbricht. In diesem Jahr braucht man keine Geschenke, weil man die Verwandtenbesuche ohne schlechtes Gewissen ausfallen lassen kann, um den R-Wert zu senken. Man findet also die innere Ruhe, sich zurückzuziehen, den Kopfhörer aufzusetzen und gute Musik zu hören. Weil man Zeit und Muße hat, darf es ruhig etwas anspruchsvoller in Albumlänge sein. Genau dafür findet ihr bei “Auf die Ohren” ab sofort ein paar Vorschläge. Keine Angst, es ist keine Weihnachts-Compilation dabei.

Die erste Empfehlung geht an die Isländer von Sigur Rós um den umtriebigen Frontmann Jónsi, die am Freitag mit „Odin’s Raven Magic“ ein neues Album veröffentlichen. Die Imagination von Island ist immer mit Mythologie der Edda, den altnordischen Götter- und Heldenlieder verbunden. Die nordische Mythologie ist zwar verbrannt, weil die Nazies sie zu ihrem Kult erhoben haben. Dennoch berührt sie als vorchristliche Kultur unsere Wurzeln. Man sollte sich mit ihr beschäftigen und sie nicht den rechten Spinnern überlassen, sei es auch nur, um zu verstehen, woher Tolkien die ganzen Vorlagen für seinen Herr der Ringe her hat. Es gibt eine Erzählungen in der Edda, denen man Bedeutung auch für die heutige Zeit zu messen kann. In „Hrafnagaldur Óðins“ (Odins Rabenmagie) schickt Göttervater Odin zwei Raben los, die Welt zu erkunden. Ihm schwant Böses. Die zurückgekehrte gefiederten Kundschafter haben auch keine guten Nachrichten. Bei einem Festmahl in Asengard , dem Götterwohnsitz, berichten sie von unheilvollen Zeichen, die das Ende der Welt, sowohl der Götter als auch der Menschen, ankündigen. Heute würden die Raben wohl nichts anderes berichten können. Hilmar Örn Hilmarsson, Islands Musiklegende und geweihter „Chef Goði“ der heidnischen nordischen Religion Ásatrúarfélagið, ist fasziniert von dieser Erzählung. Auch er schlägt die Brücke zur Gegenwart und sagt: ”Es ist ein sehr visuelles Gedicht mit Bildern über eine Welt, die von Norden nach Süden gefriert. Es war eine apokalyptische Warnung. Vielleicht fühlten es die Menschen der damaligen Zeit am eigenen Leib. Island befasst sich heute natürlich mit Umweltproblemen im Zusammenhang mit Wasserkraft und der Zerstörung des Hochlands. Wir werden wieder gewarnt. “
Odins Raven Magic ist eine Zusammenarbeit zwischen Sigur Rós und Hilmar Örn Hilmarsson sowie Steindór Andersen, einem Fischer und einer von Islands angesehensten traditionellen Kantoren. Die Orchester- und Chorarrangements übernahmen Sigur Rós’ ehemaliges Mitglied und Arrangeur Kjartan Sveinsson und Maria Huld Markan Sigfúsdóttir von der Band amiina. Zu hören (und unten im Video zusehen) ist auch eine einzigartige Marimba mit fünf Oktaven, die von dem Bildhauer Páll Guðmundsson aus grob behauenen Steinstücken gebaut wurde.
Das Werk Odins Raven Magic wurde 2002 für das Reykjavik Arts Festival konzipiert und nur wenige Male aufgeführt. Bislang gab es nur bruchstückhafte Aufnahmen. Mit der Veröffentlichung am 0410.2020 liegt erstmals eine Aufnahme des gesamten Werks vor. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme der 70-minütigen Partitur aus der Grande Halle de la Villette in Paris.
Also ab aufs Sofa, CD einlegen oder streamen und nochmal anfangen, den Herr der Ringe zu lesen.