Ein musikalisches Tagebuch im Lockdown
Wir schreiben das Jahr 1976. Tim Smith und Gaye Adverts, die sich in Devon an der Kunstschule kennengelernt haben, ziehen nach London. Sie sind begeistert von Iggy Pop, The Velvet Underground, den New York Dolls und den Sex Pistols und der aufblühenden Punkszene in der britischen Hauptstadt. Zusammen mit dem Gitarristen Howard Pickup und dem Schlagzeuger Laurie Driver gründen sie die Punkband “The Adverts”. Gaye spielt Bass und Tim, der sich fortan TV Smith nennt, singt. Im August 1978 landen “The Adverts” mit “Gary Gilmore’s Eyes” ihren wohl größten Hit. Der Song handelte von einem zum Tode verurteilten Mörder, der seine Netzhaut der Wissenschaft vermachte, sodass nach seinem Tod jemand anderes durch seine Augen blickte. Nachdem Manager Michael Dempsey an den Folgen eines Stromschlages verstirbt, löst sich die Band mit einem Abschiedskonzert am 27. Oktober 1979 auf. TV Smith allerdings hört nie auf, Konzerte zu spielen und Platten aufzunehmen.
„I was already in trouble when / They took me to one side and said / There is no job left here for you / I was already a victim of / A system weighed in favour of / The rich and privileged few / Doesn’t matter anyway / It’s a lockdown holiday“.
TV Smith
Zunächst hat er verschiedene Bands, seit den 1990er-Jahren ist er solo unterwegs und tritt nur mit Gitarre und einem Sequenzer auf. TV Smith spielt jährlich oft über 100 Konzerte in verschieden europäischen Ländern. Auch als Liedermacher mit sozialkritischer Poesie behält er die schnörkellose Energie des Punks bei. Seine Sichtweise ist die der Arbeiterklasse, der Unterprivilegierten und der vermeintlich Machtlosen. Er protestiert gegen die Privilegierten und die Mächtigen.

Im Jahr 1991 nehmen “Die Toten Hosen” ihr Album “Learning English Lesson One” auf. Dafür covern sie zusammen mit TV Smith den Adverts-Klassiker “Gary Gilmore’s Eyes”. Es entwickelt sich eine enge Freundschaft zwischen dem britischen Punkveterranen und den Düsseldorfen, die über die Jahrzehnte hält. Hosen-Drummer Vom Ritchie tritt oft gemeinsam mit TV Smith auf, wenn dieser Konzerte in Deutschland spielt. Sein Album „Useless – The Very Best Of TV Smith“ spielte er 2001 gemeinsam mit den Hosen ein. So wundert es nicht, dass „Lockdown Holiday“ auf JKP, dem bandeigenen Plattenlabel der Toten Hosen erschienen ist.
Das Pandemie-Jahr 2020 wirbel alle guten Pläne durcheinander. Nach einigen umjubelten Shows in Deutschland und UK will TV Smith ab März mit den irischen Punkrock-Legenden Stiff Little Fingers touren. Im Sommer will er die Toten Hosen auf ihrer Akustiktour begleiten und damit in einigen der größten Arenen seiner Laufbahn spielen. Doch dann kommt Covid-19. Alle Konzerte in Europa werden abgesagt und als wäre das nicht schlimm genug, TV Smith infiziert sich mit dem Coronavirus .
„I need distraction from myself / Cos I’ve been going through hell / It’s hard to see the funny side of life / When you’re feeling unwell / No taste or smell / Send in the clown / We need him now“.
TV Smith
Was fängt man in dieser Zeit mit seiner Zeit an? TV Smith schreibt Song um Song, all seine Gedanken über das, was gerade in und mit der Welt geschieht. Dabei entsteht keine Nabelschau eigener Befindlichkeiten. So werden z. B. auch die katastrophalen Zustände im griechischen Flüchtlingslager Moria nicht vergessen.
„Meanwhile in some refugee camp / Without any water on tap / The world has turned its back / You can get sick just like that / We metaphorically wash our hands / Complain about the holiday plans / But if you simply accept it / You’re already infected“.
TV Smith
Im eigenen Homestudio, mitten im UK-Lockdown, entsteht das Album „Lockdown Holiday“. Mal nachdenklich, mal bitterböse, stets changierend zwischen Niedergeschlagenheit und Kampfgeist ist es im Grunde das musikalische Tagebuch eines kritischen Zeitgenossen in einer historischen Situation.
„Dass TV Smith die Zeit der Krise aus dem Stegreif in große Kunst übersetzt, zeigt einmal mehr seine unglaublichen Fähigkeiten als Texter. Für die Toten Hosen ist er seit vielen Jahren Freund und Vorbild. Ohne Leute wie ihn würde es uns als Band gar nicht geben. Wir sind stolz, sein neues Album auf unserer kleinen Plattenfirma zu veröffentlichen.“
Campino