„Re-Animator“ ist das fünfte Album von Jonathan „Jon“ Higgs (Gesang, Gitarre), Jeremy Pritchard (Bass), Alex Robertshaw (Gitarre, Keyboard) und Michael Spearman (Schlagzeug). Die vier Briten, ehemalige Studenten der Musikwissenschaft, formierten ihre Band Everything Everything im Jahr 2007. Die ersten beiden Wörtern des Radiohead-Songs “Everything In Its Right Place” ergaben den Bandnamen. Mit ihrer wunderschönen, provozierenden, ja gebildeten Musik waren Everything Everything immer Lieblinge der Medien und kamen bei ihren Konzerten gut an. Ihr Debutalbum “Man Alive” wurde für den Mercury Prize 2011(Auszeichnung für die besten Alben der Jahres in UK) in die engere Wahl gezogen.
Erfolgsgeschichte
Einen Großteil der Jahre 2017 und 2018 verbrachten Everything Everything auf Tournee, darunter ihre bisher umfangreichste Amerika-Konzertreise und ihre größten Shows in Großbritannien – inklusive einer epischen Nacht im 10.000 Zuschauer fassenden Londoner Alexandra Palace. Das letzte Album „A Fever Dream” brachte ihnen 2018 die zweite Nominierung für den Mercury Prize ein. „A Fever Dream“ zeichnet sich durch seine gesellschaftskritische Haltung aus, insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Digitalisierung.
Brand im Bandquartier
Auch Everything Everything haben mit dem Corona-bedingten Lockdown zu kämpfen, wobei zusätzlich an dem Tag, als die Sperrung angekündigt wurde, ihr Bandquartier durch ein Feuer zerstört wurde. Die Band berichtete, das neben technischen Equipment mehrere Gitarren zerstört wurden, die wegen der verbundenen Erinnerungen auch ideelle Werte darstellten. Wegen Corona und den damit verbundenen Auftrittsverboten verschoben Everything Everything die eigentlich für August geplante Veröffentlichung des Albums. Aber nun wird “Re-Animator” am 11. September und ich freue mich, dass mir Jon Higgs, der Kopf der Band, aus diesem Anlass ein Interview gegeben hat.
Interview mit Jon Higgs
Adohr: Everything Everything hat sich nie gescheut gesellschaftlich relevante Themen, wie z.B. die dunklen Seiten der Digitalisierung aufzugreifen. Der Titel eures neuen Albums Re-Animator eröffnet viele Assoziationen. Auch wenn das Album vor dem Lockdown entstanden ist, denkt man jetzt daran, dass die Welt nach dem Lockdown reanimiert werden muss. Viele verknüpfen damit die Hoffnung, dass bei der Re-Animation der Gesellschaften stärker auf den Schutz der Natur und des Klimas geachtet wird, Was ist eure Meinung dazu und welchen Einfluss hatte die Themen Schutz der Umwelt und Klimakatastrophe auf euer neues Album.
Jon Higgs: Ja, das ist eine Lesart von Re-Animator, da sich der Titel auf etwas bezieht, das dich wieder zum Leben erweckt, etwas, das dich wieder lebendig fühlen lässt. Ich denke, viele Menschen gehen durch das Leben, als würden sie in einer Endlosschleife feststecken, denken nicht wirklich, fühlen sich nicht wirklich mit irgendetwas verbunden, existieren nur. Ein Re-Animator ist etwas, das dich aus diesem Zustand herausholt – vielleicht die Geburt deines Kindes oder das Verlieben oder eine Nahtoderfahrung oder den Verlust eines Elternteils – große Lebensereignisse, durch die du plötzlich fühlst, dass du lebst, eher ein lebendes, atmendes Tier, als ein Zombie. Ich denke, man könnte sagen, dass die Pandemie für viele Menschen ein groß angelegter Re-Animator ist. Es gab viel Selbstreflexion und Überdenken, wie die Dinge sind und wie wir leben. Der Klimawandel steht immer im Hintergrund unserer Alben, und ich erwähne ihn normalerweise jedes Mal bei mindestens einem Song. Es ist nur eine von vielen Ängsten bei Re-Animator und eine, die ich aus der Sicht eines Teenagers gewählt habe, der nicht wirklich die Verantwortung für die Reparatur der Welt haben will und die Generationen hasst, die ihn dazu zwingt.
Adohr: Wenn ein Mensch reanimiert wird, wird er vom er vom Tod ins Leben zurückgeholt. Ihr steht in der Mitte eures Lebens und seid als Band sehr erfolgreich, seid bereits zweimal für den Mercury Prize nominiert worden, habt große Tourneen und riesige Konzerthallen bespielt. Wie geht ihr mit der Gewissheit um , dass das alles mal enden wird? Ein Song auf Re-Animator befasst sich mit dem Tod. In diesem Zusammenhang, welche Bedeutung haben für euch zum eine Erinnerungen die bei einer Re-Animation oft verloren gehen, aber auch materielle Werte? (Ihr habt von der Presse von einem Feuer in eurem Studio berichtet)
Jon Higgs: Ich finde es cool, wenn alles eines Tages endet und wenn wir etwas unnatürlich verlängern, ist es normalerweise für niemanden gut. Ich bin ziemlich schlecht in Erinnerungen – mein Gedächtnis ist in Ordnung, aber ich kann schlecht zurückblicken – ich mag keine Nostalgie. Es gibt einen Song auf dem Album, in dem ich singe: „Ich schaue nicht zurück und ich freue mich nicht, weil ich das Gefühl nicht mag.“ Ich spreche über genau diese Sache, es macht mir Angst, Schudgefühle zu haben oder das Leben geht vorbei ohne Glück in der Vergangenheit oder Gegenwart.
Ich mag einige materielle Dinge, aber nur, wenn sie mit sentimentalen Gefühlen verbunden sind, sonst ist es mir egal – ich bin keiner für ausgefallene Gitarren oder ähnliches. Ich mag Technologie, die ich verwenden kann, Laptops oder solche Sachen, und ich mag Software! Gott, das ist lahm, aber es ist wahr, einige Software-Teile haben mir mehr Freude bereitet als jede andere materielle Sache, die mir einfällt. Wenn sie überhaupt materiell sind …
Adohr: Vor oder während der Aufnahmen von Re-Animator hast du dich mit Julian Jaynes und seinem Werk über den Bicameral Mind beschäftigt. Dies führt zu meiner letzten und vielleicht schwierigsten Frage. Wie ist dein Verhältnis zur Religion? Wenn man den Gedanken des Bicameral Mind konsequent zu Ende denkt, dann hat nicht Gott den Menschen erschaffen, sondern Gott war ein Gedanke in einer Gehirnhälfte, der von der andren als göttlich wahrgenommen wurde. Also erschuf der Mensch Gott.
Jon Higgs: Ja, ich bin fasziniert von den philosophischen Fragen, die in der Theorie enthalten sind, dass die „Stimme Gottes“die ganze Zeit ich selbst war, ich bin mein eigener Gott. Sehr interessant zu denken. Die Idee von vielen verschiedenen Göttern mag ich auch, Götter mit Fehlern und Persönlichkeiten, anstatt eines Mega-Gottes, der perfekt ist und all diese seltsamen Widersprüche und Paradoxien hat. Im Allgemeinen mag ich organisierte Religion nicht, aber ich mag auch die meisten organisierten Gruppen von Menschen nicht wirklich – wir neigen dazu, schreckliche Dinge zu tun, wenn genug von uns zusammenkommen. Mein Gott ist die Natur und das Universum, ob das nun ein spiritueller „Glaube“ ist, den ich nicht kenne, es schien mir immer, dass die Sonne das einzige ist, was es Sinn macht, anzubeten, und das war das erste, was alle Kulturen taten.
„Re-Animator“- Musik und Philosophie
Zum Schreiben der 11 Songs, die auf “Re-Animator” vereint sind, haben sich Everything Everything über ein Jahr Zeit genommen, Ideen zu sammeln, Songs zu schreiben und Demos zu erstellen. Der belesene und vielseitig an ernsten Themen Interessierte Haupttexter Jon Higgs fand eine Inspirationsquelle, als er über die Theorie der bikameralen Psyche stolperte, die 1976 von dem Psychologen Julian Jaynes aufgestellt wurde.

Nach dieser Theorie waren in der Frühphase der menschlichen Evolution die beiden Seiten des Gehirns getrennt, was zu einem gespaltenen Bewusstsein geführt hat, etwa so wie heute in der Psychiatrie die Schizophrenie erklärt wird. Eine Gehirnhälfte nahm die andere als Stimme wahr, die zu ihr wie Gott oder ein verstorbener Vorfahre gesprochen hat. So erklärte Jaynes die Entstehung von Religionen.
Die Faszination der Idee, von Gott in einem selbst, schlug sich unmittelbar in den Songs ‟In Birdsong” und „Planets“ nieder, die das Staunen über die Wunder der Natur thematisieren, und ‟Arch Enemy”, der mit einem elegant gewundenen Art-Funk-Rhythmus die Anbetung der falschen Götter Gier und Verschwendungssucht geißelt, die letztlich für der Klimawandel verantwortlich ist. Das Thema Doppelebene spiegelt sich auch im Song ‟Big Climb” wieder. Während der dunkle Text zum Innehalten zwingt, stürmt die Musik geradewegs auf die Tanzfläche. Die einfassende Klammer wird durch den Opener ‟Lost Powers” und das sich steigernde Finale ‟Violent Sun” gebildet. ‟Lost Powers” ist ein prächtiger Pop-Moment, in dem Higgs seinen Falsettgesang so wohlklingend wie nie zuvor zum Einsatz bringt. Das euphorische und laute “ Violent Sun”, das bestimmt live hervorragend funktioniert, setzt den grandiosen Schlusspunkt des Albums, das unter der Leitung des für seine früheren Arbeiten mit Künstlern wie St. Vincent, Sharon Van Etten, Angel Olsen und Future Islands bekannten Produzenten John Cogleton aufgenommen wurde.